Kurzgeschichte Plastik von Judith Busse

Einschlafen
Ich wälze mich im Bett. Ich kann einfach nicht einschlafen, zu viele Gedanken in meinem Kopf, mein Körper ist rastlos und findet keine Ruhe. Egal wie oft ich schon in meinem Leben eingeschlafen bin, immer wieder frage ich mich, wie es geht.


Erster Traum
Ein Krankenhaus. Viele junge Menschen liegen in den Betten. Ich kann sie durch ein Fenster in der Tür sehen. Auf der Tür steht Morbus Plastica 3, nur eine von vielen Krankheiten, die durch Mikroplastik in unserem Körper ausgelöst werden können. Ich glaube, es gibt sogar Morbus Plastica 43. Ein unwohles Gefühl der Angst macht sich in meinem Bauch breit. Bis jetzt zeige ich keine Symptome einer Morbus Plastica, und seit Monaten nehme ich Replastica, Tabletten, die das Mikroplastik in meinem Körper unschädlich machen sollen. Bisher entstandene Schäden kann es aber nicht rückgängig machen. Ich seufze. Als vor 3 Jahren die ersten Fälle auftraten, waren die
Ärzt*innen ratlos. Dabei hatten Expert*innen schon lange vor negativen Auswirkungen des Mikroplastiks auf unseren Körper gewarnt. In den nächsten Monaten kristallisierte sich immer mehr heraus, dass wirklich das Mikroplastik hinter den Krankheiten steckte. Junge Menschen, die sonst immer ruhig und zurückhaltend gewesen waren, bekamen aus dem Nichts Wutausbrüche, schlugen um sich und schmissen Bücher, Teller oder was sonst gerade griffbereit war durch den Raum.
Andere konnten ihre Arme nicht mehr bewegen und häufig ging das Hungergefühl verloren.
„Frau Sehlen“, ich drehe mich um. Die Ärztin steht in der Tür und schaut zu mir.
„Die Ergebnisse sind da, kommen Sie bitte mit mir, damit wir sie besprechen können.“
Ich gehe an der Ärztin vorbei in das Zimmer und setze mich auf den Stuhl. Mein Herz schlägt schnell und stark in meiner Brust. Die Ärztin setzt sich mir gegenüber und rückt ihre Brille zurecht.
„Frau Sehlen, bei der Untersuchung der Blutwerte haben wir erhöhte Plasticon-Werte festgestellt.“
Mein Herz schlägt noch schneller und ich spüre wie mein Mund trocken wird.
„Und das heißt?“, krächze ich.
„Sie haben Morbus Plastica, ich vermute Morbus Plastica 42.“
Mir wird schwindelig. Ich versuche Luft zu holen, aber es funktioniert nicht. Dann wird alles
schwarz.


Wach
Ich hole tief Luft und öffne die Augen. Ich liege in meinem Bett, es ist dunkel um mich herum. Als ich mich aufsetze, spüre ich, dass mein T-Shirt vollkommen durchnässt ist von Schweiß. Mein Herz rast noch von dem Schrecken der Diagnose aus dem Traum. Morbus Plastica. Wie bin ich da wieder drauf gekommen, frage ich mich. Doch dann erinnere ich mich an den Workshop, an dem ich am Abend teilgenommen hatte. Es ging um den Gebrauch von Plastik in unserem Alltag und wie viel Mikroplastik dadurch in die Umwelt gelangt. Besonders schockiert hatte mich der Plastikwasserkocher, tausende Teilchen Mikroplastik in nur 1 ml Wasser. Die Hitze im Wasserkocher lässt das Plastik sich noch leichter ablösen. Und selbst, wenn man auf Plastik im Alltag verzichten würde, das Mikroplastik ist sogar schon in unserem Leitungswasser angekommen.
Es scheint kein Entrinnen zu geben. Frustriert lege ich mein Gesicht in meine Hände und seufze. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich wohl ca. anderthalb Stunden geschlafen habe. Ich seufze erneut, ziehe mir dann ein trockenes, frisches T-Shirt an und lege mich wieder ins Bett. Nach dem Workshop hatte ich im Internet recherchiert, was es für Möglichkeiten gibt, das Plastik wieder aus unserer Umwelt rauszuholen. Ansätze sind zwar schon da, aber es erscheint mir hoffnungslos bei den Mengen an Plastik, dass wir das jemals schaffen werden.


Einschlafen
Ich wälze mich im Bett. Ich kann einfach nicht einschlafen, zu viele Gedanken in meinem Kopf, mein Körper ist rastlos und findet keine Ruhe. Egal wie oft ich schon in meinem Leben eingeschlafen bin, immer wieder frage ich mich, wie es geht.


Zweiter Traum
Der Himmel ist blau und wolkenlos, doch das hält die Tausenden von Menschen nicht ab, hier zu stehen und erwartungsvoll auf die Bühne zu schauen. Manche tragen einen Sonnenhut, andere halten einen Sonnenschirm über sich. Die Sommer in Deutschland sind in den letzten Jahren immer heißer geworden. Auf dem Gelände sind mehrere Trinkbrunnen aufgestellt. Service-Mitarbeiter*innen verteilen Sonnensprays und Sonnencreme in Glasbehältern. Heute wird überall auf der Welt gefeiert, dass wir es geschafft haben. Die weltweite Produktion von Gütern ist plastikfrei, es wird kein Plastik mehr produziert. Nur noch in wenigen Bereichen, wie in der Medizin, gibt es sogenannte Biokunststoffe, die biologisch abbaubar sind. Ein Gefühl der Freude breitet sich in meiner Brust aus, und Erleichterung. Gemischt mit meiner Aufregung ist das ein Gefühlscocktail, der mir so viel Energie gibt, dass ich gar nicht weiß wie ich diese vor einem so
großen Publikum ausdrücken kann.
„Und nun einen großen Applaus für Julia Sehlen, die journalistische Expertin auf dem Gebiet der Plastikkrise.“ Ich atme einmal tief ein und aus und betrete dann die Bühne, begleitet von einem tosenden Applaus. Ich warte bis der Applaus abebbt und hoffe, dass auch mein Puls sich etwas beruhigt, aber er hört nicht auf zu rasen. Noch einmal atme ich tief ein und aus und dann beginne ich zu sprechen:
„Vor 10 Jahren bekam ich die Diagnose Morbus Plastica 42. Das war ein Schock für mich. Aber es hat mich wachgerüttelt. Damals hatte ich gerade einige Jahre als Journalistin gearbeitet. Nach meiner Diagnose begann ich Artikel zu Morbus Plastica und der Plastikkrise zu schreiben. Damals hätte ich nicht gedacht, dass wir jetzt, 10 Jahre später, kein Plastik mehr produzieren. Es macht mich sehr glücklich, dass ich das miterleben darf. Gleichzeitig schmerzt es mich, dass viele Menschen Morbus Plastica nicht überlebt haben. Besonders, wenn man daran denkt, dass Plastikfilter, die inzwischen jeder Haushalt hat, so eine Katastrophe vielleicht hätten verhindern
können. Auch wenn wir jetzt kein Plastik mehr produzieren, ist es immer noch in unserer Umwelt vorhanden. Es wäre schön, wenn wir in 10 Jahren wieder hier stehen und feiern, dass es kein Mikroplastik mehr in den Meeren und im Trinkwasser gibt. Eine hundertprozentige Entplastifizierung ist nach heutigem Stand sehr unwahrscheinlich und auch schwer nachzuweisen. Aber wir sind auf einem sehr guten Weg. Viele große Plastikinseln wurden aus den Ozeanen entfernt und in Erdöl umgewandelt durch die Plastikbakterien. Für das Plastik am Meeresgrund sind Plastikroboter im Einsatz, und sie werden fortlaufend weiterentwickelt und optimiert. Neue Entwicklungen sollen auch ermöglichen, dass die Roboter Mikroplastik mit Hilfe von speziellen Pflanzen einwickeln können. Die Entwicklung der letzten 10 Jahre hat mir gezeigt, was wir
gemeinsam schaffen können und dass wir die Hoffnung nicht aufgeben dürfen. In der Krise finden Menschen zusammen und können Dinge erschaffen, die man sich nicht hätte erträumen lassen. Die Coronapandemie hatte uns kurz aus unserem Schlummer aufgeweckt, doch es brauchte die Plastikkrise, um die Menschheit wirklich wachzurütteln. Und wir alle wissen, dass wir noch vor vielen großen Herausforderungen stehen, die Folgen des Klimawandels haben die Welt in den letzten 10 Jahren sehr verändert. Doch wir dürfen nicht aufgeben, sondern müssen alles tun, um diesen Planeten nicht als Heimatort zu verlieren. Unser erfolgreiches Antiplastikprogramm hat
gezeigt, was wir alles schaffen können, gemeinsam. Lasst uns gemeinsam eine Welt gestalten, in der wir leben können.“
Kurz ist es still, dann kommt der Applaus. Und ich lächele, in diesem Moment bin ich glücklich. Ich weiß noch nicht wie wir die zukünftigen Herausforderungen meistern werden, aber mehr denn je habe ich die Hoffnung und das Vertrauen, dass es möglich ist.


Wach
Ich öffne die Augen. Ein Geräusch hat mich geweckt. Erst nach ein paar Sekunden verstehe ich, dass es mein eigenes Lachen war. Die Bilder meines Traums erscheinen vor meinem inneren Auge. Und ich spüre eine Hoffnung, ein freudiges Gefühl in meiner Brust. Ich schlage die Decke zurück und springe förmlich aus meinem Bett. Voller Energie setzte ich mich an meinen Schreibtisch, nehme mir Papier und Stift und fange an zu schreiben:

Mein persönliches Antiplastik-Programm:

– Lebensmittel unverpackt einkaufen (im Unverpackt-Laden, Stoffnetze für Obst-und Gemüse im Bio-Markt)
– Holzzahnbürste statt Plastikzahnbürste
– keine Plastikflaschen mehr kaufen, stattdessen Leitungswasser trinken und Edelstahlflasche für unterwegs benutzen
– Seife, Duschgel und Shampoo durch feste Seife ersetzen
– Putzmittel selber herstellen
– bei Kauf von Produkten möglichst plastikfreie Produkte wählen (Edelstahlwasserkocher, Brotbox aus Edelstahl, Nudelsieb aus Metall, etc.)
– einen Blog schreiben, um andere an meinem Weg teilhaben zu lassen
– Müll sammeln mit Freund*innen


Ich lehne mich zurück und schaue die Liste an. Ein Seufzen entfährt mir, es gibt einiges was man ändern kann. Und doch scheint es nur ein Tropfen auf dem heißen Stein zu sein. Doch es ist ein Anfang und wenn wir alle anfangen, bewegt sich etwas. Ich vermute, dass wir dafür auch politische Impulse brauchen und füge meiner Liste hinzu:

– nach Partei suchen, die sich für Plastikreduzierung einsetzt
– für eine plastikfreie Universität, Stadt einsetzen
eine Demo für eine plastikfreie Zukunft initiieren („plastic-free future“)


Ich spüre ein Kribbeln in meinem Bauch, vor Aufregung kann ich nicht mehr ruhig sitzen bleiben und stehe auf. Ich werde als erstes in den Unverpackt-Laden gehen, der vor kurzem bei mir in der Nähe aufgemacht hat, denke ich, während ich mir Klamotten zum Anziehen heraussuche. Nachdem ich mich fertig angezogen habe, schaue ich nochmal auf die Liste auf meinem Schreibtisch. Ich fühle mich so leicht und voller Energie und Freude. Noch einmal greife ich nach dem Stift und füge als letzten Punkt hinzu:

– Hoffnung schenken

© Judith Busse, 2021